Vorsicht: Bilder! „Kriegerin“

Es ist eine Frage der Erfahrung. Gleichzeitig mit dem Lesen lernen wir, die Wörter zu interpretieren. Was meint die Rede, was bedeutet der Text? Kommunikation wäre unmöglich, wenn man darüber keine Einigkeit herstellen könnte.

Doch gilt das auch für Bilder? Abgesehen davon, dass wir die Sprache brauchen, um uns darüber zu verständigen, was sie erzählen, ist ihre Bedeutung weitaus offener als die von Wörtern. Kann ihre Vieldeutigkeit nicht sogar so weit reichen, dass die einen sich von den gleichen Bildern abgestoßen fühlen, die auf die anderen anziehend wirken?

Ein Filmstoff wie „Kriegerin“ stellt den Regisseur vor die schwierige Aufgabe, ein Milieu zu zeigen, das auf den Zuschauer abstoßend wirken soll: Großmäulige Neonazis mit Ritualen, die so primitiv sind wie ihre Ansichten. Sie terrorisieren Fahrgäste in einem Regionalzug, sie pöbeln Asylbewerber an, sie demütigen ihre Mädchen, sie saufen und grölen Nazilieder. Andererseits muss die Regie glaubhaft machen, warum diese Horde junger Männer für Marisa und Svenja, die beiden jungen Frauen, deren Leben wir eine Zeitlang beobachten, so unwiderstehlich ist. Eine Gratwanderung. Ist sie gelungen?

Der Film beginnt mit Wellenschlag am Ostseestrand und Marisas Stimme, die das Feld absteckt, auf dem das Übel wuchert: „Demokratie ist das Beste, was wir je auf deutschem Boden hatten. Wir sind alle gleich. Es gibt kein Oben und kein Unten. In einer Demokratie kann jeder mitbestimmen: Du, ich, Alkoholiker, Junkies, Kinderschänder, Neger, Leute, die zu blöd sind, ihren Hauptschulabschluss zu schaffen, Leute, denen ihr Land einfach egal ist, denen egal ist, wenn der Laden den Bach hinunter geht. Aber mir ist es nicht egal. Ich liebe mein Land“. Was ist das? Bekenntnis, trotz allem, zur Demokratie? Purer Hohn? Fest steht: Ein Neonazi könnte dieser Aussage vorbehaltlos zustimmen. Der Film wendet sich aber doch gegen den Rechtsradikalismus? Das ist die Krux mit der Doppeldeutigkeit. Ein Regisseur muss genau wissen, wie man auf Distanz zu dem geht, was man zeigt. Dieser Vorspann setzt ein falsches Signal. Hielte ein zynischer Funktionär, der Altnazi mit dem österreichischen Akzent zum Beispiel, eine solche Rede, wüsste der Zuschauer auf Anhieb, dass es sich um Polemik und Propaganda handelt. Die liebliche Stimme der noch nicht als „Kriegerin“ in Erscheinung getretenen Marisa verführt zur gefährlichen Identifikation mit dem Inhalt.

Das ist nicht die einzige Zweideutigkeit in diesem Film. Was zieht Mädchen wie sie und die 15-jährige Svenja zu der Gruppe junger Männer, die sich als Neonazis gebährden? Regisseur David Wnendt, der auch das Buch geschrieben hat, setzt auf Milieuschäden. Ort der Handlung ist eine Kleinstadt „im Osten“, wo die Elterngeneration sich nach wie vor zum Sozialismus bekennt, die Großeltern gar zu noch Schlimmerem: dem Naziregime. Marisa wird von ihrem Großvater mit Härtetraining und Durchhalteparolen wie ein Junge erzogen und begegnet uns als aggressive „Nazibraut“, die sich am „Ausländerklatschen“ im Vorortzug beteiligt, sexuelle Initiativen ergreift, sich in Prügeleien einmischt und das Moped der afghanischen Brüder aus dem Asylbewerberheim, mit denen sie in Streit geraten ist, durch einen Schlenker ihres Autos von der Fahrbahn stößt – wahrhaftig kein Kavaliersdelikt. In der Bande junger Männer kann sie vor allem ihre Omnipotenzphantasien ausleben.

Aber sind diese jungen Leute wirklich politisch? Sie sind über und über mit Nazi-Tattoos bedeckt, sie tragen Klamotten mit einschlägigen Symbolen, sie grölen Nazi-Lieder und heben die Hand zum Hitlergruß. Wenn man von dieser karnevalesk übertriebenen Aufmachung absieht, unterscheiden sie sich jedoch nicht von den Zusammenrottungen anderer Halbwüchsiger, die Parties feiern, saufen, fluchen, sich herumbalgen. Gewiss: sie sind fies zu den Mädchen, beschimpfen sie ordinär, geben ihnen auch mal eins auf die Ohren – doch diese ganz gewöhnliche Gemeinheit hat noch keine demokratiegefährdende Dimension. Um einem jugendlichen Zuschauer in Pubertätsnöten die Lust zu nehmen, sich solchen großmäuligen, Stärke markierenden Individuen anzuschließen, müsste man doch etwas tiefer im Sumpf bohren. Stattdessen ein positives Signal – Marco, der Drogen verkaufen will, wird verprügelt und ‘rausgeworfen. Botschaft: Die Jungs sind sauber!

Gefährlicher daneben greift die Wahl des Nazi-Propagandafilms „Der ewige Jude“, der zu den schlimmsten gehört, die unter Goebbels’ Diktat entstanden sind. Unmittelbar nach dem Einmarsch in Polen drehten Mitarbeiter des Reichspropagandaministeriums Bilder im jüdischen Schlachthaus von Lodz, die keine Fälschungen waren, denn das in der Tat grausame Schächten war damals noch üblich; allerdings zwangen die Deutschen die jüdischen rituellen Schlächter vor der Kamera zu besonders widerwärtigen Gesten. Dieses Filmmaterial hat damals der Vorbereitung des Völkermords an den Juden gedient, die als Tierquäler dargestellt wurden, so dass dem Gedanken, diese Menschen dürften skrupellos getötet werden, Tür und Tor geöffnet wurden. Der Missgriff des Regisseurs David Wnendt, der ja zum Beispiel die propagandistische Verführung durch Hitlerreden und SS-Aufmärsche hätte zeigen können, besteht darin, dass er Material benutzt, das den Antisemitismus seinerzeit zu rechtfertigen schien und womöglich heute noch ähnliche Wirkungen zeitigt wie 1940.

Vorsicht vor den falschen Bildern. Vorsicht vor bestimmten Bildern an der falschen Stelle. Kurz bevor Marisa vor unseren Augen stirbt, zeigt eine Rückblende sie als Schulmädchen mit dem Großvater im Strandkorb, wo sie ihm erklärt, sie werde einen Vortrag vor der Klasse zum Dritten Reich halten. „Über deine Zeit: Hitler, Konzentrationslager. Wie schlimm das alles war“. Der Großvater, im Licht der Autorität, die das Mädchen ihm verleiht: “Da wird so viel erzählt über diese Zeit. Du musst dir überlegen, wem du glaubst. Sie sind mächtiger denn je, und sie sind immer noch dabei, ihre Lügen und ihr Gift zu verbreiten!“ Marisa: „Wer“? Großvater: „Die Juden“. Diese „Botschaft“ am Ende des Films ist fatal. Der Regisseur will vermutlich die Gesinnung des Großvaters denunzieren, doch inhaltlich gießt er Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus.

„Kriegerin“ ist wie ein Anagramm. Man kann den Film, je nach Standpunkt, positiv oder negativ lesen. Die Doppeldeutigkeit liegt schon in der Struktur. Oberflächlich betrachtet – das scheint die positive Botschaft zu sein – steigt Marisa am Schluss aus der Szene aus. Sie verhilft dem afghanischen Asylbewerber Rasul zur Flucht nach Schweden. Wer dies als eine Art Bekehrung interpretiert, könnte auf der falschen Fährte sein. Sie fühlt sich von Rasul erpresst, weil sie der Meinung ist, sein Bruder sei bei dem von ihr verursachten Unfall umgekommen. Der sterbende Großvater hat ihr zuletzt die Lehre erteilt, man müsse für seine Taten gerade stehen. Das betrachtet sie als sein Testament. Das Tattoo mit dem Porträt ihres Großvaters soll auf ihre linke Schulter kommen, das Hitlerbild auf ihre rechte. Dass Sandro sie ohrfeigt, weil sie sich in ihm in ihrer Trauer verweigert, ernüchtert sie. Dass er sich an ihrem Schützling Rasul vergreift, bringt sie in Rage. Sie schlägt in einer Art Amoklauf Sandro und andere mit einer Keule nieder. Nun bleibt ihr nur noch die Flucht. Rasul ist schon im Auto, Svenja wird hineingezerrt. Das Geld, das Svenja ihren Eltern gestohlen hat, um mit Marisa durchzubrennen, gibt sie an den Schlepper weiter, der Rasul nach Schweden bringt. Svenja kündigt sie an, dass sie sie nach Hause schicken wird, weil sie erst 15 ist. Einen Akt der Reife stellt dieses Verhalten nicht unbedingt dar. Marisa führt einfach durch, was sie sich vorgenommen hat. Mit anderen Worten: eine Szene- Aussteigerin aus moralischen Gründen ist sie nicht.

Da ist ihr letzter Satz, bevor Sandro sie niederschießt: Sie habe immer etwas tun, etwas bewirken, etwas ändern wollen. Dabei zerrinne einem das Leben zwischen den Fingern… Schnitt. Rückblende. Das Kind mit dem Großvater im Strandkorb. Der Großvater sagt: „Sie sind mächtiger denn je, und sie sind immer noch dabei, ihre Lügen und ihr Gift zu verbreiten!“ Dann stirbt Marisa. Wofür? (Vorsicht, Bildschnitt! Er stellt Bedeutungszuammenhänge her).

Svenja, die Ausreißerin, die sich von ihr verraten fühlte und Sandro auf ihre Spur gelenkt hat, nimmt im off, während die Ostseebrecher rauschen, das Eingangs-Motiv auf: „Demokratie ist das Beste, was wir je auf deutschem Boden hatten. Wir sind alle gleich. Es gibt kein Oben und kein Unten. Alles wird sich ändern“.

Was wird sich ändern bzw. nicht ändern? Und ist das gut oder schlecht für die Demokratie?

Kriegerin ist ein deutscher Spielfilm von Regisseur David Wnendt über die Neonazi-Szene in Deutschland. Er wurde beim Filmfest München 2011 uraufgeführt. Der Kinostart in Deutschland war am 19. Januar 2012.